Freitag, 7. November 2014

Die Bezahlbarkeit der Welt: Rainald Goetz' Roman "Johann Holtrop".


Ein Roman von Rainald Goetz, erhältlich in jeder halbwegs gut sortierten Bahnhofsbuchhandlung, jahrzehntelang schien sich dies auszuschließen – knapp dreißig Jahre nach seinem Debüt Irre (1983) war es dann doch so weit, mit Johann Holtrop gelang ihm der unerwartete und relative Bestseller, allseits gelobt als Dokument des Zeitgeistes – was schon absurd genug ist, da sich Goetz immer mit seiner sehr eigenen Kommentierung des Zeitgeistes beschäftigt hat. Einzige Konzession an eine größere Leserschaft seitens des Autors ist allerdings ein etwas konventioneller Realismus – gleichbedeutend mit einem Verzicht auf die ständigen Gedankensprünge und Bewusstseinsströme seiner sonstigen Werke – nicht jedoch die Aufgabe eines unverhohlen subjektiven Standpunkts. Ergo muss der Erfolg des Buches daher rühren, dass Goetz’ Standpunkt derjenige ist, den – derzeit – auch viele Leserinnen und Leser einnehmen.

Wovon handelt dieser laut Untertitel doppeldeutige Abriss der Gesellschaft also? Diese so legitime wie banale Frage ist entweder kurz oder gar nicht zu beantworten. Die drei Abschnitte des Romans berichten aus dem Leben des Konzernchefs Johann Holtrop: erst die Ausübung seiner Macht an der Spitze eines Medienkonglomerats, dann sein plötzliches Scheitern und am Ende im Dauerlauf seinen endgültigen Abstieg. Was er da genau tut, wie es zu all den Dingen, die ihm widerfahren, kommt, wie er sich an der Spitze halten kann und warum er plötzlich abstürzt – ein Rätsel. Selbst eine akribisch-analytische Lektüre würde nicht schlauer machen. Womöglich würde mancher hierdurch frustrierte Leser dies der Inkompetenz des Autors ankreiden, läge damit jedoch völlig daneben.

Goetz bedient sich einer Methode, die schon H.G.Wells in seinem Klassiker The Time Machine gekonnt angewandt hat. Eben jene Zeitmaschine genauestens und mit Heraushebung von Details beschreibend, täuscht Wells raffiniert darüber hinweg, dass er eigentlich gar keine nachvollziehbare Schilderung des gesamten Gerätes liefert. Wie auch? Schließlich existiert die Zeitmaschine nicht. Entsprechend verfährt auch Goetz. Er beschreibt akribisch zahlreiche Vorgänge, Transaktionen, Verschwörungen und Theorien des Geschäftslebens, ohne dass sich ein klares und nachvollziehbares Gesamtbild ergibt. Fügt man die zahlreichen Episoden zusammen, bleiben sie in der Luft hängen. Wie auch nicht? Schließlich existiert hinter all dem Vordergründigen schlicht und einfach nichts. Autor und Leser sind gleich ratlos, wie jeder Laie – und Goetz’ Roman nach selbst die vermeintlichen „Insider“ – angesichts der Vorgänge in einer real nichts produzierenden Wirtschaft.

Der Protagonist jedenfalls hat selbst nie wirklich den Durchblick – bei nichts. Ihn leitet einige Zeit der Instinkt und zynische Skrupellosigkeit. Letztere besitzen allerdings alle seine Geschäftspartner und Kollegen, ersterer ist etwas, das sich naturgemäß nicht konservieren lässt. Irgendwann dreht sich der Wind, Holtrop bekommt dies nicht mit – was ihm nicht vorzuwerfen ist, da es hierfür keinen ausmachbaren Grund gibt – und aus der Präzisionsmaschine wird ein Absteiger, der am Ende so aus dem Tritt gerät, dass er versehentlich Selbstmord begeht; nur konsequent in einer Welt, in der jede absurde Folge eintreten kann.

Wie immer hat Goetz überhaupt keine Lust, so zu tun, als würde er objektiv beschreiben. Schon auf der ersten Seite wird durch die Charakterisierung des Unternehmens klar, wie wenig er von dieser ökonomisch geprägten Kultur hält, so kaputt wie Deutschland in diesen Jahren, so hysterisch kalt und verblödet [...] wie die Macher, die hier ihre Schreibtische hatten, sich die Welt vorstellten, weil sie selber so waren, gesteuert von Gier, der Gier, sich dauernd einen Vorteil zu verschaffen. Dieser Beschreibung der Jahre 1998 bis 2010 stimmen inzwischen viele zu, viele, denen dies – im Gegensatz zu Goetz – vorher nicht auffiel. Dieser war schon immer polemisch, nun könnten sich zahlreiche seiner Sätze auch in diversen Manifesten finden; nur nicht in dieser Schönheit. Herausgestellt sei lediglich ein Beispiel von vielen für Goetz’ Beherrschung der Sprache – darum ist dies auch Literatur und kein Pamphlet: „Gott sei mit denen, die ihn brauchen“, sagte Binz, „und so auch mit mir. Das war Binz’ Schnellnovene an den Gott der Frankfurter Börse. Präziser – und auch lustiger – kann man ethische Pervertierung kaum zusammenfassen; dass solch eine sich selbst widersprechende Schnellnovene zu nichts führt, ist so klar wie tröstlich.

Goetz nutzt auch das alberne Idiom der Wirtschaftseliten, krude Anglizismen, Platitüden mit Sehnsucht nach Tiefgang, ebenso unverständliche wie inhaltsleere Wissenschaftlichkeitsanmutung, geht darüber sogar noch eine Ebene hinaus. In der Literaturwissenschaft gibt es den Begriff des Fiktionsvertrages, das heißt der stillen Übereinkunft zwischen Autor und Leser, das Geschriebene nicht für die Beschreibung des empirisch Realen zu halten. Weniger kompliziert ausgedrückt, wer Johann Holtrop im Telefonverzeichnis sucht oder den Firmensitz Krölpa vergeblich googelt, ist offenbar ungeeignet, Fiktion und Fakten zu unterscheiden. Auch Goetz schließt naturgemäß diesen Fiktionsvertrag, nimmt dies jedoch noch buchstäblicher. An nicht gerade auffälliger Stelle findet sich nämlich eine sehr, sehr kleingedruckte Schutzschrift noch vor Beginn des Romans und sie ist für den Leser ähnlich kryptisch wie manche Vertragsklausel: Natürlich basiert dieser Roman auf der Realität des Lebens auch wirklicher Menschen. Aber es ist ein Roman, Fiktion, fiktiv in jeder Figur, alles hier Erzählte auch: Werk der Literatur. Dies entspricht einer alten Literaturtradition, ist zugleich tatsächlich Schutz vor einer allzu plumpen Lesart als Schlüsselroman; dass in die Figuren des Buches Personen der Zeitgeschichte – manche mit ihren echten Namen – eingeflossen sind, dürfte auch dem oberflächlichsten Querleser bald auffallen. Der Stolperstein dieser Anweisung liegt ohnehin in dem unscheinbaren Wort auch  auch: Werk der Literatur. Also: nicht nur. Doch erschöpft sich dies nicht in der rein literarischen Verschiebung echter Biographien, sondern verweist auf die Beschreibung des Zustandes. Leider – immerhin handelt es sich um den Zustand unserer Gesellschaft, wie ihn Goetz sieht. Man möchte ihm gern immer mal wieder widersprechen, lässt es nach längerem Nachdenken jedoch besser sein. Kurzum: Johann Holtrop ist ein Roman, der anders ist als der Protagonist, der ihm den Titel verleiht, nämlich: klug.     

 Rainald Goetz: Johann Holtrop. Abriss einer Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp Verlag 2014.  

Siehe auch: http://bene-a-rebours.blogspot.de/2014/12/rainald-goetz-kontrolliert-ein-anderer.html
                          

 

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